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Die Mauer überwinden


Interview mit Mark Braverman

Warum es mir in Deutschland um Israel und Palästina geht

Mark Braverman, jüdischer Psychologe und Autor aus den USA, Friedensaktivist für Israel und Palästina, „Verräter“ für die einen und „Prophet“ für die anderen, freut sich auf seine dritte Vortragsreise durch Deutschland vom 5. bis 17. Juni 2015.

Mark BravermanMark Braverman (r.) und Christian Kercher (l.) - Foto: Gabriele Rennert, Kiel 2015


Was mögen Sie an Deutschland?

An Deutschland gefällt mir besonders die Eisenbahn und das Bier. Langsam verbessere ich auch mein Deutsch. Zuhause in Philadelphia haben wir jiddisch gesprochen. Was mich hier fasziniert, ist, dass sich mein Feindbild auflöst, mit dem ich aufgewachsen bin: Mein Jüdischsein war eine Bunker- und Opfermentalität. Unsere beiden Hauptfeinde waren die Deutschen und die Araber, die einen in der Vergangenheit, die anderen in der Gegenwart, weil sie den Staat Israel bedrohen.

Sie sprechen von Mauern, die Sie überwunden haben.

Ja, in Deutschland überwinde ich in mir diese psychologische Mauer, so wie ich 2006 die Mauer zu den Palästinensern durchbrochen habe, indem ich zum ersten Mal in das Westjordanland gefahren bin, um ihnen zu begegnen.

Hier kristallisieren sich meine Themen. Ich sehe in den Deutschen mein Spiegelbild. Ich habe bei ihnen das tiefe Bedürfnis gespürt, von ihren Mauern befreit zu werden.

Wie war das auf der anderen Seite der israelischen Mauer?

Das war vor neun Jahren, als ich zum ersten Mal die Westbank besuchte. Ich überwand die Mauer, die mein Volk gebaut hat, um sich vor dem angeblichen Feind zu schützen. Den traf ich und siehe da: die Palästinenser hatten keine Angst vor mir. Ich hörte ihr Narrativ von 1948, das von ihrer ethnischen Säuberung und Enteignung. Aber noch wichtiger war, die Menschen selbst kennenzulernen und in ihnen meinen Bruder, meine Schwester zu sehen. Sie umarmten mich. Sie waren dankbar für mein Kommen. Das war ein starkes Bekehrungserlebnis.

Wie können denn die Israelis ihre Mauer überwinden?

Man kann sich nicht als Opfer oder als Täter definieren. Man bleibt immer in bezug auf den anderen stecken. Beides ist zerstörerisch für die Seele. Was ich 2006 von der Westbank-Seite der Mauer aus entdeckt habe, ist, dass es die Israelis sind, die sich selbst gefangen genommen haben. Die Palästinenser wissen, wer sie sind. Sie werden unterdrückt, aber sie haben keine Angst. Sie sind wütend, aber sie hassen Israel nicht. Doch die israelische Gesellschaft basiert größtenteils auf Angst und Rassismus. Wie sie über die Palästinenser reden, ist die Projektion ihrer Angst. So haben die jüdischen Bürger Israels keine Zukunft. Sie werden erst ein nachhaltiges Projekt haben, wenn sie bereit sind, die Mauer abzureißen, die Palästinenser zu integrieren und das Land zu teilen. Es gibt genug für alle.

Warum funktioniert der Friedensprozess nicht?

Erstens weil die israelischen Regierungen das ganze Land haben und keinen souveränen Staat Palästina zulassen wollen. Aber weil Israel die Palästinenser nicht loswerden kann, so setzt es ein Maximum an Kontrolle und Beschränkung durch. Zweitens sind die USA kein ehrlicher Makler, sondern meine Regierung ist Israels Bankier und Rechtsanwalt. Das Wort ‚Nahostkonflikt‘ gaukelt vor, dass es sich um zwei gleichrangige Konfliktpartner handelt. Aber des Übels Wurzel ist die fortgesetzte Enteignung von Palästinensern. Wir haben das in Südafrika nicht akzeptiert und wir können das hier auch nicht akzeptieren. Deswegen kommt es darauf an, dass eine globale Bewegung von unten wächst, die das israelische Regime delegitimiert und die Unterstützung unserer Regierungen für Israel nicht länger toleriert.

Und da sollen ausgerechnet die Deutschen mit ihrer Vergangenheit mitmachen?

Ja, Deutschland ist wichtig für diese Protestbewegung, aber auch anders herum: Sie ist die Gelegenheit für die Deutschen, ihr Trauma des Dritten Reiches zu überwinden. Denn sie haben es noch nicht überwunden. Solange sie es für unmöglich halten, die Palästinenser zu unterstützen und damit die Israelis und Juden bei der Befreiung von ihrer Angst zu unterstützen, solange bleiben Sie in den 1930er und 1940er Jahren des 20. Jahrhunderts stecken! Jetzt ist die Gelegenheit, sich zu emanzipieren!

Sie appellieren besonders an die Kirchen. Was sagen Sie denn den Bischöfen mit ihrer offiziellen Haltung der besonderen deutschen Verantwortung gegenüber Israel, wegen der man etwa den Boykott nicht unterstützen könne, sondern immer im Dialog mit dem jüdischen Volk bleiben müsse?

Abgesehen davon, dass sie damit die Juden mit dem Staat Israel gleichsetzen, ist es problematisch, dass beide, Deutsche und Juden, in ihrem Trauma gefangen gehalten werden, wenn die Bischöfe so selbstbezogen in ihrer Rolle als Täter bleiben, die sühnen müssen. Ich akzeptiere diese Idee der deutschen Besonderheit nicht, aber selbst wenn ich sie gelten liesse und sie den Juden besonders hilfreich und liebevoll gegenüber sein wollen, dann sollen sie die palästinensische Sache zu der ihren machen, den Staat Israel mit seinen Menschenrechtsvergehen konfrontieren und ihn von seiner Rolle als Unterdrücker befreien.

Leider geht es aber den meisten Bischöfen als Vertreter ihrer Institution vor allem darum, ihre Kirchen, sich selbst und ihre Position vor der Zensur durch das jüdische Establishment zu schützen.

Aber ist nicht die Überwindung der Judenfeindlichkeit im christlichen Glauben eine gute Sache?

Zweifellos. Aber da fehlt der Jesus der Evangelien, der vor dem Tempel stand und sagte, der wird zerstört werden und durch meinen Leib ersetzt werden. Jesus war der beste Jude, sage ich immer. Er hat die Mächtigen herausgefordert und ist für die Armen und Unterdrückten aufgestanden. Matthäus Kapitel 25! Ich bete für den Tag, an dem die Christen nicht die Erlaubnis eines Juden brauchen, um Jesus wirklich nachzufolgen, aber für den Moment sehe ich das als meine Aufgabe.

Was motiviert Sie?

Es ist die Gemeinschaft der Engagierten, das starke Gefühl der Zusammengehörigkeit. So stark fühlte ich mich noch nie zugehörig. Ich fühle mich auch in den Kirchen zu Hause. Nicht dass ich konvertiert bin, aber es ist, als hätte ich den größten Reformer des Judentums, Jesus, umarmt. Mich für die Rechte der Palästinenser einzusetzen fühlt sich jüdischer an als alles andere in meinem Leben.


Mit Mark Braverman sprach Christian Kercher, Redakteur der PalästinaIsraelZeitung, der ihn auf der Vortragsreise als Dolmetscher begleitete.

Frieden und Versöhnung